Was hat Architektur mit Lernen zu tun?

Wie Räume das Lernen unterstützen

Was charakterisiert eine „gute Architektur“ für Bildungsräume? Was für eine Architektur erfordern Lernorte, die Kinder und Jugendliche auf zukünftige Heraus­forderungen vorbereiten? Betrachtet man die geschichtliche Entwicklung von Pädagogik und Architektur, gab es immer eine gegenseitige Einflussnahme seit dem Bau von Schulhäusern. Seit einigen Jahren ist ein Paradigmenwechsel in der Pädagogik zu beobachten, der sich auch in der Architektur von Bildungs­bauten widerspiegelt.

Pädagogik im Wandel

Raum und Pädagogik gehören zusammen

In den letzten Jahren konnten veränderte Anforderungen an die Architektur von Bildungseinrichtungen, hervorgerufen durch veränderte Pädagogik, beobachtet werden. Das klassische Modell der „Flurschule“ – ein langer Gang mit beidseitig angeordneten Klassenräumen – wird den neuen Anforderungen an pädagogische Konzepte nicht mehr gerecht.

Entscheidend für einen Paradigmenwechsel in der Pädagogik waren die vielbeachteten Ergebnisse der Pisa-Studie aus dem Jahr 2000: Es zeigte sich, dass besonders diejenigen Schüler:innen schwache Ergebnisse erzielten, die aus Ländern mit eher traditionellen Lehr- und Lernformen kamen. Damit setzte ein Veränderungsprozess in der Schulpädagogik ein, der bis heute anhält. Inzwischen liegen umfassende Erkenntnisse aus der Hirnforschung über den Lernprozess vor. Beispielsweise wurde in der „Hattie-Studie“ untersucht, welche Einflussfaktoren den Lernprozess begünstigen oder erschweren. Es zeigte sich, dass die Architektur hierbei auf zweiter Ebene eine wesentliche Rolle spielt, da sie die Atmosphäre im maßgeblich mit beeinflusst: Der gebaute Raum erzeugt bei allen Nutzer:innen eine Stimmung, sie erzeugt Geborgenheit oder Unbehagen, Angst oder Sicher­heit, wirkt einladend und abweisend, beruhigend oder anregend. Dieser architekturpsychologische Hintergrund kann zum Lernerfolg beitragen, indem eine anregende und zugleich geschützte Atmosphäre erzeugt wird.

Durch die jahrelange Planungserfahrung von a|sh architekten im Bereich Bildungs­bau lassen sich fünf Kriterien formulieren, die für eine gute Schulbauarchitektur maßgeblich sind.

 „Wir müssen die alte Typologie der Flurschule hinter uns lassen.“

Stefan Peters
Leitender Architekt bei a|sh

5 Kriterien für eine erfolgreiche Schulbauarchitektur

Kriterium 1

Partizipation und Schwarmintelligenz

Jahrelange Erfahrung mit Partizipationsprozessen und Nutzerbeteiligung zeigt in der Planungspraxis einen eindeutigen Mehrwert. Durch die frühzeitige Einbeziehung des spezifischen Wissens aller Nutzer:innen in einer „Phase Null“ wird bereits vor Planungsbeginn der konkrete Bedarf ermittelt und auf die Zukunftsfähigkeit überprüft. Dadurch werden kostenintensive Planungsänderungen im späteren Projektverlauf vermieden.

Parallel zur Planung werden pädagogische Konzepte und Szenarios weiterentwickelt und regelmäßig mit der Architektur abgeglichen. Die Erfahrung zeigt, dass diese dialogische Arbeitsweise zukunftsfähigen Schulbau in Einklang mit der Pädagogik ermöglicht.

„Ein zukunftsfähiger Schulbau entsteht nur im Dialog mit allen Akteuren.“

Martina Hilligardt
Architektin und Schulbauberaterin bei a|sh

Kriterium 2

Ausnutzung von Flächenpotenzialen

Der Raumbelegungsplan zeigt die Flächenausnutzung im Gebäude - eine optimale Nutzungsbelegung vermeidet räumlichen Leerstand.

Hierbei lösen sich Klassenzimmer und Fachräume zu „Lernräumen“ auf, indem eine Raumlandschaft entsteht, in der verschiedene Nutzungen – beispiels­weise für allgemeine oder fachspezifische Lernphasen, Ganztagsangebote, Inklusion und Personalisierung fließend ineinander übergehen.

Die räumliche Anordnung und Erreichbarkeiten der Lernräume zueinander ist mit entscheidend für eine maximale zeitliche Raumausnutzung. Besonders themenspezifisch ausgestattete Lernräume, beispiels­weise für naturwissenschaftliche oder künstlerische Aktivitäten, sollten zeitlich umfangreich genutzt werden. Dies wird durch kurze Wege und thematisch kombinierte Lernbereiche innerhalb der Lernräume ermöglicht.

Neben hochspezifischen Lernorten braucht es gleichermaßen flexibel nutzbare Flächen, die unterschiedlichen didaktischen Lernformen und verschiedenen Gruppenkonstellationen für Lern- und Arbeitsphasen, Feierlichkeiten, Vorträge und Veranstaltungen dienen.

Kriterium 3

Inklusive Bildung

Eine inklusive Gesellschaft benötigt inklusive Bildungsorte. Die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit von Schulgebäuden für alle Menschen – ob mit oder ohne körperliche oder kognitive Beeinträchtigung Einschränkung - erfordert ein „über den Tellerrand schauen“ bei der Planung der Barriere­frei­heit. Mit der DIN 18040 ist ein wesentlicher Grundstein für eine barrierefreie Architektur gelegt, doch ein inklusiver Bildungs­bau zeichnet sich durch mehr als „räumliche Schwellenlosigkeit“ aus. Stattdessen handelt es sich um eine Raumstruktur die räumliche Vielfalt an großen und kleinen Räumen, offenen und geschützten Raumqualitäten mit unterschiedlichen Ausstattungen anbietet und dabei eine Palette an Individualisierungsmöglichkeiten im Schulalltag bereithält. Ein ganzheitlicher Planungsansatz, der allen einen guten Lern- und Arbeitsort bietet, muss an die Stelle des additiven Denkens von Raummerkmalen rücken. Bisherige Konzepte müssen hinterfragt und für zukünftige Bedarfe entwickelt werden.

Kriterium 4

Vom digitalen Raum zum sozialen Raum

Schule als Institution geht über reinen Wissenserwerb hinaus – sie ist auch ein Ort für soziales Lernen. Die Bedeutung von Schule als sozialer Lernort für Begegnung und zwischenmenschliche Interaktion hat mit den Erfahrungen aus der Pandemie erheblich zugenommen. Die Pandemie machte Vor- und Nachteile digitaler Bildungsmöglichkeiten sichtbar.

Einerseits liegt in der Digitalisierung viel Potenzial im individuellen und persönlichen Zuschnitt von Lerninhalten für jede:n Schüler:in, wodurch sich Wissensvermittlung an verschiedenen Lerntypen individuell ausrichtet. Andererseits liegen Grenzen und Heraus­forderungen des digitalen Lernens in sozialer Isolation: Die Bedeutung von Schule als sozialer Lernort, Ort der Begegnung und der sozialen Interaktion wurde deutlich.

Im Schulbau erlangen Bereiche für das Zusammenkommen, das gemeinsame und voneinander Lernen einen höheren Stellenwert und müssen dementsprechend in der Planung und Umsetzung berücksichtigt werden. Ziel ist es, die Chancen und Potenziale des digitalen Lernens mit den Qualitäten des physischen Ortes Schule herauszuarbeiten, was eine frühzeitige Zusammenarbeit von Pädagogik, Verwaltung und Architektur erfordert.

„Aufgrund vielfältiger digitaler Lehr- und Lernformen müssen Raumkonzepte viel stärker soziale Interaktionen fördern.“

Martina Hilligardt
Architektin und Schulbauberaterin bei a|sh

Kriterium 5

Schulbau als Bildungsobjekt

Als Ort der Bildung müssen Schulbauten soziale Interaktionen fördern und bereits als Gebäude Vorbildcharakter haben. Untersuchungen aus der architekturpsychologischen Forschung zeigen, wie beispiels­weise Farbigkeit und Materialität von Decke, Boden und Wand oder die Raumgeometrie auf menschliches Befinden und soziale Interaktionen wirken³. Ein konkretes Beispiel ist die Lichtplanung: Beleuchtungssysteme in Kombination mit entsprechender Raumgestaltung und Möblierung können  hinweisgebend für spezifische Raumnutzungen eingesetzt werden und betonen beispiels­weise Bereiche im Raum zum Zusammenkommen, Essen oder konzentrierten Arbeiten. Durch die Gestaltung des Raumes wird die beabsichtigte Raumnutzung intuitiv vermittelt.

Durch die Auswahl der Einzelkomponenten Licht, Farbe und Material im Zusammenspiel mit der Geometrie ergibt sich die Gesamtgestalt der Architektur. Sie transportiert nicht nur Stimmung und Atmosphäre, sondern trifft durch den Einsatz und Umgang mit Materialien und Gebäudetechnik auch eine Aussage zu Klimaschutz und Nachhaltigkeit. Somit werden Schulbauten in Ihrer ästhetischen Gestaltung, Funktionalität, Materialwahl und Haustechnik zum Anschauungsobjekt gesellschaftlicher Bildung der Nutzer:innen. Lernen ist nie einprägsamer als am realen Objekt. Ein guter Schulbau gestaltet diese Funktionen auf ästhetischer, technischer und planerischer Ebene mit, indem zum Beispiel eingesetzte Haustechnik den Schüler:innen Nachhaltigkeitsprinzipien veranschaulicht und ihnen durch ein frühzeitiges Teilnehmen im Planungsprozess architekturpsychologische Gestaltungsgrundlagen bewusst macht.

Auf dem Weg zu vielfältigen Lernsettings

Neue Schulbauarchitektur

Als Planungsbüro begleiten a|sh architekten zahlreiche Kommunen mit ihren Schulgemeinschaften in einer Phase Null und/oder im Planungsprozess für eine Sanierungs- oder Neubaumaßnahme. An zwei beispielhaften Projekten lässt sich erkennen, dass die neuen inhaltlichen und baulichen Heraus­forderungen die alte Typologie der Flurschule hinter sich lassen. Über eine Reduzierung von monofunktionalen Erschließungsflächen hin zu mehr offenen Lernbereichen, vielfältigen Lernsettings und inspirierender Raumgestaltung betreten diese Schulen neue Wege.

Der Erweiterungsbau für die Theo-Koch-Schule in Grünberg setzt neue Maßstäbe durch räumliche Transparenz und den Verzicht auf Lernraumtüren zugunsten einer offenen Lernlandschaft. Das räumlich offene Konzept erforderte eine enge Zusammenarbeit mit allen Fachingenieur:innen, insbesondere mit der Flachplanung für Raumakustik. In diesem Projekt fand von Beginn an ein enger Austausch statt und die Bedarfe wurden frühzeitig kommuniziert, sodass sie ausreichend in der Planung berücksichtigt werden konnten. Der Erfolg des Projektes ist eine Folge des intensiven Austauschs zwischen den Fachdisziplinen und der Schulgemeinschaft, die auch nach mehreren Jahren in Betrieb von diesem Konzept überzeugt ist.

Ausblick

Der Paradigmenwechsel in der Pädagogik ist nach wie vor im Gange. Die Wissensvermittlung verabschiedet sich vom Lernen im Gleichschritt, zugleich bleibt der Frontalunterricht weiterhin ein wichtiges Element zur Erschließung neuer Themenfelder.

Digitale Endgeräte erweitern die Lernwerkzeuge in ihrer eigenen Systematik mit eigenen baulichen Anforderungen und setzen gleichzeitig einen neuen Schwerpunkt auf das Erleben von Gemeinschaft – einer Gemeinschaft zu der jede:r mit seinen individuellen Fähig- und Fertigkeiten dazugehört. Gleichzeitig verlängert sich durch die Einführung der Ganztagesschule vielerorts die Anwesenheitszeit vieler Schüler:innen und Lehrkräfte in Schulgebäuden, womit die Architektur Antworten auf Schule als Lebensraum finden muss.

Die Frage, wie erfolgreiches Lernen und Lehren in der Zukunft aussieht, wird dauerhaft diskutiert und permanent beeinflusst von aktuellen gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen. Ein zukunftsfester Schulbau muss ein hohes Maß an Flexibilität mitbringen, um aktuelle und zukünftige Anforderungen zu erfüllen und gleichermaßen schon heute inspirieren und personalisierte Orte schaffen. Schule als Bildungseinrichtung soll Gemeinschaft fördern, und gleichzeitig Schüler:innen ermöglichen, sich zurückzuziehen, Interessen zu entdecken und Potenziale zu entfalten. Diesen Ansprüchen gibt gute Schulbauarchitektur ein Zuhause.