Gebaute Inklusion - 3 Thesen zu „Inclusive Design“

Inklusion ist ein Menschenrecht, das wurde 2006 durch die UN-Behindertenrechtskonvention bekräftigt. Im gebauten Raum wird dieses Recht durch barrierefreies Planen und Bauen umgesetzt. Als Architekturbüro sind wir spezialisiert auf Bauten mit gesellschaftlicher Relevanz – insbesondere Gesundheits- und Bildungs­bauten. Unsere Projekte sind in der Regel öffentliche Bauten, die als Teil der sozialen Infrastruktur die Anforderungen der DIN 18040 für barrierefreies Bauen erfüllen müssen. Doch wir gehen darüber hinaus: Für uns bedeutet Barriere­frei­heit nicht nur die Einhaltung von Normen, sondern die Umsetzung eines universellen Konzepts – ein "Design für Alle" oder kurz: Inclusive Design.

Inclusive Design – ein Design für Alle

Im Jahr 2022 lebten in der EU fast 30% der Bevölkerung mit einer Behinderung. Dabei sind Menschen mit vorübergehenden Ein­schränk­ungen, wie z.B. einem gebrochenen Bein oder einem Kinderwagen, noch nicht berücksichtigt. Fasst man die Menschen mit vorübergehenden und dauerhaften Ein­schränk­ungen zusammen, kann man davon ausgehen, dass in Deutschland etwa die Hälfte der Bevölkerung mit Ein­schränk­ungen lebt. Hinzu kommt, dass das Risiko einer Behinderung mit zunehmendem Alter steigt, so dass die Zahl der Menschen mit Behinderungen in der Altersverteilung deutlich zunehmen wird. Unabhängig von ethischen Argumenten für eine inklusive Gestaltung zeigen die Zahlen: Wir gestalten nicht für eine Randgruppe, sondern für die Mehrheit der Gesellschaft. Inklusive Umwelten sind für uns eine Grundanforderung und ein Leitprinzip, das alle Menschen mitdenkt. Inclusive Design bedeutet nicht nur, dass wir Räume gestalten, die für alle zugänglich sind. Es fordert uns als Architekturschaffende heraus, bestehende Denkmuster zu durchbrechen und neue gestalterische Lösungen zu entwickeln.

Warum Inclusive Design die Architektur von morgen prägen sollte - und wie wir dieses Ziel in die Praxis umsetzen können, zeigen unsere folgenden Thesen.

These 1

Inclusive Design führt zu besserer Architektur.

Inclusive Design stellt keine Entweder-Oder-Frage, sondern schafft Lösungen, die Gestaltung und Funktionalität für Menschen mit und ohne Einschränkung integrieren. Solche Ansätze machen Gebäude nicht nur nutzbar und erhöhen ihre Akzeptanz, sondern können auch optisch ansprechend sein. Schönheit entsteht, wenn Funktionalität und Gestaltung Hand in Hand gehen.

Inklusive Architektur unterstützt beispiels­weise die intuitive Orientierung und schafft damit emotionale Sicher­heit bei den Nutzern. Dies ist besonders wichtig in institutionellen Einrichtungen wie Kranken­häusern, Bildungs- oder Verwaltungsgebäuden. Sie greift die Besonderheiten des Ortes auf und stärkt damit die Identität und die Verbundenheit der Gebäude mit dem Ort. Dies wiederum führt zu einer höheren Akzeptanz bei den Nutzer:innen. Sie ist inklusiv, weil sie wenig Vorwissen für eine erfolgreiche Nutzung voraussetzt. Die Signaletik hilft auch Menschen, die nicht lesen können (z.B. Kinder), Menschen mit Sprachbarrieren, Menschen mit kognitiven Ein­schränk­ungen, Menschen mit Farbsehproblemen oder anderen Sehschwächen.

Die räumlichen Lösungen werden überzeugender, weil wir Architekturschaffenden uns im Falle von Inclusive Design intensiver mit der Bauaufgabe auseinandersetzen: Beispiele sind ein taktiles Leitsystem, das in Form von „Goldnuggets“ in den Bodenbelag integriert wird und damit das gesamte Gebäude aufwertet. Das visuelle Signaletik-Konzept schafft lokale Bezüge, stärkt damit die Identität des Ortes und steigert die Akzeptanz bei den Nutzer:innen. Der Durchlaufschutz besteht nicht aus grau-weiß Quadraten, sondern aus Blattornamenten, die sich im Gebäude-Leitsystem und an der Fassade wiederfinden. Durch diese Bezüge von Architektur und Ausstattung entsteht ein starkes Gesamtkonzept für ein Gebäude, das nicht nur im Sinne der Inklusion von vielen Menschen benutzt werden kann, sondern auch einen höheren Gestaltungsanspruch von uns Architekturschaffenden verwirklicht.

„Menschen mit Ein­schränk­ungen sind die Seismografen der Architektur: Sie machen sichtbar, was wirklich gute Architektur ausmacht.“

Dr. Julia Kirch, Referentin für Wissenschaftstransfer

These 2

Inclusive Design ist empathisch.

Architektur, die alle Menschen einbezieht, beginnt mit Empathie. Es bedeutet, sich in die vielfältigen Bedürfnisse unterschiedlicher Nutzer:innen hineinzuversetzen: Menschen mit körperlichen Ein­schränk­ungen, ältere Menschen, Kinder, Personen mit sensorischen oder kognitiven Ein­schränk­ungen sowie Menschen, die nicht lesen können. Dies erfordert Methodenvielfalt und eine offene Haltung gegenüber den Perspektiven der Nutzer:innen: Gerade bei der Planung von komplexen und öffentlichen Gebäuden wie beispiels­weise Kranken­häusern, sind wir Planende nicht nur Architekt:innen, sondern gleichzeitig Moderierende in Nutzergruppen und Fürsprecher:innen für all jene, die nicht vertreten sind. Zuhören, die richtigen Fragen stellen, Gespräche moderieren -  all das erfordert Einfühlungsvermögen, gedankliche Flexibilität und gute Kommunikation. Als Gestalter:innen liegt es schließlich in unserer Verantwortung, die vielfältigen Anforderungen in eine funktionale und gleichzeitig gestalterisch ansprechende Architektur zu übersetzen.

Inclusive Design stellt die Frage: Wie fühle ich mich, wenn ich diesen Raum betrete? Wie werde ich empfangen und was brauche ich, um mich selbstständig zurechtzufinden? Das Ergebnis ist eine Architektur, die verbindet und das Gefühl vermittelt: Hier bin ich willkommen. Dieses einfühlsame Verständnis ist ein wesentlicher Baustein für Räume, die weit mehr sind als funktionale Gebäude.

„Empathie in der Architektur bedeutet, Räume zu schaffen, in denen sich alle willkommen fühlen."

Petra Gunst, leitende Innenarchitektin

These 3

Inclusive Design ist politisch.

Barriere­frei­heit ist mehr als nur ein Thema der Planung – sie ist eine Frage der Haltung. Inclusive Design ist ein politisches Statement: Es steht für Teilhabe und Gleichberechtigung. Wer inklusiv gestaltet, trägt aktiv für eine gerechtere Gesellschaft bei und schafft die Grundlage für soziale und politische Teilhabe. In der Praxis bedeutet dies, sich aktiv und konsequent für universelle Nutzbarkeit einzusetzen – auch angesichts möglicher Heraus­forderungen. Denn jeder barrierefreie Raum ist ein Raum für alle, unabhängig von Fähigkeiten oder Ein­schränk­ungen. Architektur wird so zu einem kraftvollen Instrument des gesellschaftlichen Wandels.

Besonders anschaulich wird dies in Räumen, die der politischen Arbeit dienen, wie dem Landtagsgebäude Rheinland-Pfalz in Mainz.

„Jedes inklusive Gebäude und jeder inklusive Außenraum ist ein Statement für Gleichberechtigung und allgemeine Anerkennung des gesellschaftlichen Wandels.“

Frank Wüster, Geschäftsleiter und Sach­ver­ständiger für Barriere­frei­heit in Gebäuden und Außenraum

Heraus­forderungen

Natürlich gibt es Heraus­forderungen, wenn es darum geht, Inclusive Design in die Praxis umzusetzen. Dazu gehören höhere Kosten in der Umsetzung, zu wenige Best-Practice-Beispiele oder als stigmatisierend empfundene Gestaltungsansätze - wie die Reduktion von Barriere­frei­heit auf bloße Rampen. Manchmal fehlt es den Gestalter:innen an Kompetenz oder Erfahrung, sich in die Bedürfnisse unterschiedlicher Nutzergruppen hineinzuversetzen. Hinzu kommt die mangelnde Attraktivität des Themas und die Scheu, sich mit Krankheit und Ein­schränk­ungen auseinanderzusetzen. Beim Bauen im Bestand sind wir oft mit erheblichen Ein­schränk­ungen konfrontiert, die gestalterische Kompromisse erfordern.

Um diesen Heraus­forderungen zu begegnen, ist ein grundsätzliches Umdenken erforderlich:

  • Aufklärung über Zahlen, Ein­schränk­ungen und die Tatsache, dass Barriere­frei­heit viel einfacher und kostengünstiger umgesetzt werden kann, wenn sie von Anfang an mitgedacht wird.
  • Methoden, um die vielfältigen Bedürfnisse aller Nutzer:innen gezielt zu ermitteln.
  • Kommunikationskompetenz, um den Dialog zwischen allen Beteiligten zu fördern.
  • Und nicht zuletzt Wissen und Fähigkeiten, die bereits in der Ausbildung oder im Studium vermittelt werden, damit Inclusive Design zu einem festen Bestandteil der Architektur wird.

Die Anforderungen an Barriere­frei­heit und die Berücksichtigung vielfältiger Bedürfnisse stellen hohe Anforderungen an Planung und Gestaltung. Aber genau darin liegt auch eine große Chance: Inclusive Design fordert uns heraus, Räume neu zu denken - und sie besser zu machen.

Appell und Auftrag

Architektur hat gesellschaftliche Relevanz. Sie prägt die Art und Weise, wie wir leben, lernen, arbeiten und miteinander in Kontakt treten. Als Architekturschaffende tragen wir eine besondere Verantwortung: Räume zu gestalten, die nicht nur funktional sind, sondern auch inspirieren und für alle zugänglich sind.

Inclusive Design ist keine Modeerscheinung. Es ist ein nachhaltiger Ansatz, der die Zukunft unserer Gesellschaft aktiv mitgestaltet. Es ist eine Aufforderung, Architektur zu schaffen, die verbindet, statt auszugrenzen. Lassen wir uns von dieser Verantwortung leiten - und machen wir Architektur für alle.